„Ich stehe immer auf der Seite der Kinder.“
Astrid Lindgren
Ein Tag in der Klinikschule
Die Tür der Klinikschule der Vorwerker Fachklinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie öffnet sich für Emma (Name und Person frei erfunden) heute das erste Mal. Emma ist etwas aufgeregt, hat sie doch mit Schule allgemein bisher schlechte Erfahrungen gemacht und war deshalb seit etwa einem halben Jahr nicht mehr in ihrer Stammschule, einem Lübecker Gymnasium. Aber durch ihre Mitpatientinnen auf ihrer Station hat sie gehört, dass diese Schule ganz anders ist.
Nur etwa 7-12 Wochenstunden Unterricht gibt es hier, in kleinen Lerngruppen. Unterrichtsschwerpunkt sind die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch.
So geht Emma, nach einem Blick auf ihren persönlichen Stundenplan, zuerst in den Deutschraum. An 2 runden Tischen unterrichten 2 Lehrerinnen jeweils 1 bis höchstens 4 Schüler und Schülerinnen. Emma ist mit ihrer Bezugslehrerin Frau Schaardt in ihrer ersten Stunde allein. Die Deutschlehrerin erklärt ihr, dass sie sich in den nächsten 3 Monaten intensiv um Emma kümmern wird, den Kontakt zur Stammschule herstellen und mit den Fachlehrern sprechen wird. So werden Unterrichtsversäumnisse möglichst gering gehalten. Emma erzählt von ihrer bisherigen Schullaufbahn, benennt Stärken und Schwächen und traut sich, weil es ein so persönliches Gespräch ist, offen zu sprechen. Ein Plan für die nächsten Wochen wird gemeinsam überlegt. Dann soll Emma zu einer Bildkarte eine freie Geschichte schreiben. Um wieder Freude am Lernen zu entwickeln, sind kreative Schreibaufgaben besonders gut geeignet. Emma macht sich auch gleich ans Werk und das erste Mal seit langer Zeit kann sie sich auf eine schulische Aufgabe konzentrieren, ohne Angst vor Bewertungen, negativen Kommentaren von MitschülerInnen oder Zeitdruck zu haben. Sie fühlt: Dies ist ein sicherer Ort, an dem sie so sein kann, wie sie ist.
Die erste Schulstunde ist schnell umgegangen, nun geht es weiter mit Englisch. Auch im Englischraum gibt es kleine Tische, an die sich die SchülerInnen ungezwungen setzen, um erst einmal, natürlich auf Englisch, miteinander Konversation zu betreiben. In ihrer Schule traut sich Emma nur selten, etwas zu sagen, 29 andere Schüler und Schülerinnen hören zu, so ist sie in der letzten Zeit fast ganz verstummt. Hier sprechen sie nur zu viert und Frau Zschiesche, die Englischlehrerin, schafft es durch ihre Aufmerksamkeit und Wertschätzung den Schülerinnen, die aus unterschiedlichen Klassen und Schulen kommen, so viel Selbstvertrauen zu vermitteln, dass sich alle angeregt unterhalten.
Mathe steht als nächstes auf dem Stundenplan. Immer schon hatte Emma Schwierigkeiten in diesem Fach, seitdem sie so viele Unterrichtsstunden versäumt hat, hat sie das Gefühl, ganz den Anschluss verloren zu haben. Da ist sie gerade richtig bei Frau Vickus:
Ganz langsam findet die Mathelehrerin heraus, in welchen Themen die 10Klässlerin Defizite hat und erklärt geduldig noch einmal die Grundlagen. Um den Mathetisch sitzen jetzt drei SchülerInnen, eine von ihnen, Linea, sie geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums, ist ein Mathe-Ass (natürlich ist auch dieser Name frei erfunden, aber Mathe-Asse gibt es öfter mal bei uns) und verspricht Emma, später mit ihr gemeinsam auf der Station die Hausaufgaben zu machen. Emma freut sich, seit fast einem Jahr hatte sie jetzt kaum Kontakt zu Gleichaltrigen, hier trifft sie auf Jugendliche, die sie verstehen, weil sie ähnliche Probleme haben wie sie.
Jetzt aber kann Emma sich nicht mehr konzentrieren, zu viel Neues ist auf sie eingeströmt, sie spricht mit Frau Vickus und diese schickt sie zurück auf ihre Station. Für den ersten Tag war das erst einmal genug Schule. Aber Emma nimmt sich vor, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen, Mitschüler und Mitschülerinnen begegnen ihr respektvoll, Die Lehrerinnen sind gesprächsbereit und verständnisvoll und diese Art von Schule bietet für Emma zudem eine gewisse Ablenkung von der teilweise sehr anstrengenden Therapie. Ist Schule vielleicht doch nicht so doof, wie sie bisher immer dachte? Die Tür des Bürgerhauses, in dem die Klinikschule untergebracht ist, schließt sich hinter Emma.